Obdachlosenfeindlichkeit: Die vergessenen Todesopfer rechter Gewalt
Gewalt gegen Obdachlose hat lange historische Linien und bleibt doch oft unsichtbar.
(Quelle: Unsplash)
Inhaltswarnung: Drastische Gewalt
März 2023: Ein arbeitsloser und von Obdachlosigkeit bedrohter Mann will seine Sorgen loswerden. Er googelt „Gefängnis letzte Rettung“, packt daraufhin ein großes Küchenmesser ein, fährt in das Frankfurter Bahnhofsviertel und verletzt einen obdachlosen Rollstuhlfahrer mit mindestens zehn Stichen in den Rücken so schwer, dass dieser später im Krankenhaus stirbt. Um selbst nicht obdachlos zu werden, tötet der Mann einen Menschen, dessen Leben ihm weniger wert zu sein scheint, als sein eigenes.
Gewalt gegen Obdachlose – keine Einzelfälle
Gewalttaten gegen Obdachlose sind grausame Realität und keine Einzelfälle. Das belegen 2.194 Straftaten in der Polizeilichen Kriminalstatistik 2024. Nicht nur erreichten Straftaten im Komplex „Obdachlosigkeit” damit einen neuen Höchststand. Seit der ersten Erfassung von Gewalttaten gegen Obdachlose 2011 hat sich die Zahl mehr als verdreifacht. Die Dunkelziffer liegt dabei vermutlich um ein Vielfaches höher. Wie die Betroffenenorganisation Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAGW) schreibt, werden viele Gewalttaten aus Misstrauen gegenüber Ermittlungsbehörden oder aus Angst vor Rache der Täter*innen gar nicht erst zur Anzeige gebracht. Wie der Fach- und Organisationsreferent der BAGW Paul Neupert für die Zeitschrift „Wohnungslos” auf der Website der Arbeitsgemeinschaft schreibt, gehöre es zum Alltag von Obdachlosen, dass sie bedroht, erniedrigt, erpresst, geschlagen und getreten, vergewaltigt, im Schlaf angezündet, gefoltert und ermordet werden.
Allein dieses Jahr gibt es bereits eine Vielzahl an dokumentierten Fällen. Am 4. Januar 2025 prügeln drei Jugendliche im Alter von 15 und 16 Jahren einen obdachlosen Mann in Rostock krankenhausreif. Im Februar geht ein Zehntklässler mit massiver und nahezu hemmungsloser Aggression auf einen Obdachlosen los, tritt mindestens achtmal auf den am Boden liegenden Mann ein, teils mit Anlauf und voller Wucht. Anfang März schlägt in Göttingen ein Unbekannter derart auf einen schlafenden Obdachlosen ein, dass er Knochenbrüche erleidet. Und erst Anfang April werfen Unbekannte einen Obdachlosen in Berlin-Friedrichshain in die Spree.
Obdachlosenfeindlichkeit ist tief in der Gesellschaft verankert
Und das ist lediglich die Spitze des Eisbergs – Gewalt gegen Obdachlose beginnt viel früher. Die BAGW benennt bereits die Vertreibung von wohnungslosen Menschen aus dem öffentlichen Raum oder die Verwehrung der Nutzung öffentlicher Infrastruktur als Formen von Gewalt gegen Obdachlose. Dazu kommt die generelle Obdachlosenfeindlichkeit, also die Diskriminierung wohnungsloser Menschen.
„Wohnungslos” ist dabei der allgemeinere Begriff. Wohnungslose verfügen über keinen eigenen Wohnraum, können aber in Heimen oder sonstigen Unterkünften untergebracht sein. Manchmal verheimlichen Wohnungslose ihre Situation aus Angst vor negativen Reaktionen. „Obdachlos” sind Menschen, die sich im Freien aufhalten und auch dort übernachten.
Zwar ist der BAGW zufolge ein Teil der Täter*innen selbst wohnungslos und die Gewalt eskaliert beispielsweise im Streit um knappe Ressourcen, doch wird die Obdachlosenfeindlichkeit durch ein allgemeines gesellschaftliches Klima begünstigt, das Obdachlose abwertet und problematisiert. In der aktuellen Mitte-Studie 22/23 der Friedrich-Ebert-Stiftung gibt rund ein fünftel der Befragten an, Obdachlose sollten aus den Innenstädten entfernt werden, damit man sie nicht sehen muss.
Wie enthemmt sich diese Einstellung entladen kann, zeigt die Ermordung von Horst Hennersdorf in Fürstenwalde/Spree (Brandenburg). Stundenlang quälen zwei Skinheads am 5. Juni 1993 den Obdachlosen, treten und schlagen ihn, werfen eine Schranktür auf ihn und springen immer wieder auf seinen Oberkörper. Sie urinieren auf ihn und leeren einen Eimer mit Fäkalien über ihm aus. Zwei Frauen sind während der Tat anwesend, rufen aber nicht die Polizei. Die beiden Täter, einer von beiden zum Tatzeitpunkt 15 Jahre alt, gehörten zur lokalen rechtsextremen Szene. Einer der Täter sagte später, der Obdachlose habe auf ihn den Eindruck „eines niedrigen Menschen, eines dreckigen Penners“ gemacht.
Obdachlosenfeindlichkeit ist Teil des rechtsextremen Weltbilds
Der Fall zeigt viele Eigenschaften, die typisch sind für Gewalt gegen Obdachlose, zum Beispiel, dass sie häufig von jungen Männern ausgeübt wird. Außerdem scheint es sich oftmals um situative Gewalt zu handeln, die dann jedoch in eine enthemmte Brutalität und eine ungewöhnlich lange Tatzeit mündet. Und: Oft sind die Täter rechtsextrem. Aber bei keiner anderen Opfergruppe wird das rechtsextreme Tatmotiv so häufig ausgeblendet, wie bei Obdachlosen (PDF).
Obdachlosenfeindlichkeit und Rechtsextremismus liegen nah beieinander. Eine Langzeitstudie der Universität Bielefeld hat von 2002 bis 2012 Obdachlosenfeindlichkeit als Phänomen des Syndroms „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit” untersucht und herausgefunden, dass vor allem solche Menschen obdachlosenfeindlich eingestellt sind, die auch anderen sozialen Gruppen Gleichwertigkeit absprechen (PDF). Der Grund: Beide Weltbilder teilen sozialdarwinistische Vorstellungen. Die Bezeichnung von Obdachlosen als „dreckige Penner” und „niedere Menschen”, wie im Fall Horst Hennersdorf, sind ein Paradebeispiel dafür. Sozialdarwinismus geht von der Ungleichheit der Menschen und einem Recht des Stärkeren aus, Solidarität mit Schwächeren und Gleichberechtigung wird demnach als „wider die Natur” gesehen. Oft diene dazu die äußere Verwahrlosung von Menschen ohne feste Wohnung als Marker für Angriffe, erklärt die Bundeszentrale für politische Bildung. Wie bei allen Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeiten richten die Taten selbst sich jedoch häufig nicht gegen das Opfer als Person, sondern gegen die Gruppe der Obdachlosen als Ganze.
Gewalt gegen Obdachlose hat lange historische Linien
Sozialdarwinismus ist eng mit Klassismus verbunden. Beide bezeichnen die Abwertung von Menschen auf Basis der ihnen zugeschriebenen sozialen oder ökonomischen Stellung im vorherrschenden kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Nach dieser Vorstellung ist Armut selbstverschuldet (PDF). Die Leistungsgesellschaft begünstigt dabei ein Nützlichkeitsdenken, das auf Arbeit basiert und Obdachlose als „faul“ oder „schwächer“ markiert. 2010 glaubten der Bielefelder Langzeitstudie zufolge 28 Prozent der Befragten, Obdachlose seien „arbeitsscheu“ (PDF).
Die problematisierende Verbindung von Obdachlosigkeit und Arbeit reicht zurück ins Mittelalter. Schon damals wurden „wahre” von „unwahren” Armen unterschieden, wenn es um die Frage ging, wer einen „berechtigten” Anspruch auf Unterstützung durch die Gesellschaft hatte. Als Kriterium diente schon damals die Bereitschaft zur Arbeit. Im 17. Jahrhundert schließlich bildeten sich Wohnsitz und Arbeit als „richtige” gesellschaftliche Ordnungskategorien aus (PDF). In der Kaiserzeit bildeten diese Ordnungskategorien die Grundlage, um Obdachlose als solche zu markieren. Männlichen Obdachlosen wurde vorgeworfen, als „Vagabunden“, „Wanderer“, „Stromer“ oder „Landstreicher“ Arbeit zu verweigern, während man Frauen und Mädchen mit dem Adjektiv „gefallen“ versah, womit die Unterstellung einherging, sie würden als Prostituierte arbeiten.
Doch Gewalt gegen Obdachlose kann vielfältige und irrationale Gründe haben. Auch Antisemitismus kommt als Motiv infrage. Am 16. Juli 1993 prügelt ein rechter Skinhead einen schlafenden Obdachlosen in Marl bis zur Bewusstlosigkeit – nachdem er ihn als „Judensau“ beschimpft.
NS-Stereotype über Obdachlose halten sich nach 1945
Im Nationalsozialismus erreichte Obdachlosenfeindlichkeit vor dem Hintergrund der NS-„Rassenhygiene“ ihren Höhepunkt. Wohnungslose wurden als „wertlos für die Volksgemeinschaft“ angesehen, und als „Asoziale“ oder „Minderwertige“ verfolgt und getötet. Zwischen 63.000 und 82.000 Menschen wurden unter diesem Etikett in Konzentrationslagern inhaftiert. Unter der Kategorie „Asoziale” oder „Berufsverbrecher” trugen sie als Erkennungszeichen einen schwarzen oder grünen Winkel. Auch Zwangssterilisation war eine gängige Praxis, da Obdachlosigkeit in einer „rassenhygienischen“ Vorstellung vererbbar war (PDF).
Nach 1945 blieben viele Stereotype bestehen – in beiden Teilen Deutschlands. In der DDR stand „Asozialität“ im Strafgesetzbuch und Obdachlose wurden unter dem Vorwand der unangepassten Lebensweise inhaftiert. In der BRD setzte sich der Begriff „Nichtsesshafte“ durch – der 1938 geprägt wurde und Wohnungslosen einen „hemmungslosen Wandertrieb” unterstellte. Obdachlose wurden als Verfolgte des NS selbst von anderen Opfergruppen nicht anerkannt und nur marginal entschädigt. Erst 2020 beschloss die Bundesregierung die Anerkennung als NS-Opfergruppe. Seit 2023 ist in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen das Schicksal dieser so lange verleugneten Opfergruppe des Nationalsozialismus repräsentiert. Gefördert durch die Amadeu Antonio Stiftung ist die Gedenkstele das Ergebnis eines selbstorganisierten Kampfes einiger Opfer-Angehöriger.
Völkisch-rassistische Denktraditionen blieben in der Nachkriegszeit ein integraler Bestandteil der rechtsextremen Gewalt gegen Obdachlose. In Weißwasser (Sachsen) stirbt der Obdachlose Bernd Schmidt am 31. Januar 2000, nachdem ihn zwei 15-Jährige drei Tage lang in einer Abrissbarracke brutal verprügeln. Im Urteil wurde einem Täter die Haltung attestiert, „dass Obdachlose, sozial Schwache und Ausländer wenig wert sind und kein Recht auf Unversehrtheit haben“. Der 15-Jährige hatte gesagt, Leute wie Schmidt seien „menschlicher Schrott“.
Gewalt gegen Obdachlose bleibt unsichtbar
Nach der Wiedervereinigung gab es während der sogenannten Baseballschlägerjahre in den 1990ern immer wieder Gewalt gegen Obdachlose. Obwohl die Täter oft Rechtsextreme waren, wurden die Taten selbst lange nicht als rechte Gewalt gewertet. Ebenso wie Bernd Schmidt wurde auch Jürgen S. wenige Monate später, am 9. Juli 2000, in einem Abrisshaus in Wismar zu Tode misshandelt. Trotz rechtsextremer Tätowierungen der Täter wird die Tötung nicht als rechtsextreme Tat gewertet – von den Tätowierungen könne nicht auf die Gesinnung geschlossen werden, so der Richter.
Dass Gewalt gegen Obdachlose auch heute noch weitgehend unsichtbar ist, liegt auch daran, dass Betroffene nach wie vor nur ein relativ kleines politisches Unterstützer*innen-Netzwerk haben. Lediglich die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAGW) setzt sich für die Belange Betroffener ein. Sie fordern von der Politik die Förderung präventiver und nachsorgender Konzepte, die Förderung wissenschaftlicher Forschung zu Gewalt gegen wohnungslose Menschen – und eine konsequente Strafverfolgung. Der Täter vom Frankfurter Bahnhofsviertel wurde am 25. April 2025 zu lebenslanger Haft verurteilt, die Dunkelziffer hat sich seitdem wahrscheinlich schon wieder erhöht.
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